Eine Weihnachtsgeschichte

Die Frau am heiligabend

Da gab es diese alte Frau. Sie war zu gebrechlich, ihre eigenen vier Wände zu verlassen. So hatte sie viel Zeit nach zu denken und sie verbrachte ihre Tage erinnernd: An ihr Leben, das was sie geschafft hatte, die Söhne, die sie erzogen hatte und die längst ihrer eigenen Wege zogen. An den Mann, mit dem sie alles das in vertrauter Partnerschaft gemeistert hatte und der schon vor Jahren seinen Gebrechen erlegen war. Die Frau dachte über die vielen schönen Dinge nach, die sie erlebt hatte: Fröhliche Feste mit einer großen Familie. Zusammenkünfte mit Freunden bei denen getanzt und gesungen wurde. Reisen in aller Herren Länder mit fremden Kulturen und paradiesischen Landschaften. Sie hatte Aufgaben, die ihr gestellt wurden, tüchtig und oft in Gemeinschaft mit vertrauten Menschen gemeistert.

 

Nun gehörte alles das der Vergangenheit an. Freunde starben. Vertraute entfernten sich. Angehörige waren beschäftigt. Die Zeichen der Zeit änderten sich und der Frau kam es so vor, als gingen die Menschen weniger unter Freude, als es noch in ihrer Jugend der Fall, gewesen war. Und als die Jahreszeit kalt, regnerisch und dunkel wurde zogen sich alle Menschen zurück an den Kamin und gingen noch weniger vor die Tür, als sie das in dieser neuen Zeit eh zu tun schienen. Die Frau war allein.

 

Doch sie wollte nicht verzweifeln und schickte sich an, alles so zu tun, wie sie es seit jeher gemacht hatte. Schließlich war der bevor stehende heilige Abend immer der fröhlichste Tag für die ganze Familie gewesen. Die Kinder hatten gelacht und die Augen waren vor freudigem Erstaunen weit aufgerissen, als sie den leuchtenden Tannenbaum das erste mal sahen - dort, wo heute nur noch ein leerer Tisch stand. Die ganze Familie hatte die dunklen Nachmittage genutzt, Plätzchen zu backen, nur um sie - sie waren noch garnicht ganz abgekühlt - freudig und voll Genuss wieder zu naschen. Der Mann der Frau hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, zu Weihnachten selbst zu kochen. Das war jedes mal ein Fest und jeder musste vor seinem Stolz über die kulinarische Meisterleistung heimlich in sich hinein grinsen. Schließlich waren das wieder einmal die besten aufgewärmten Würstchen jemals und der Kartoffelsalat schmeckte jedes Jahr besser.

 

Und auch dieses Jahr tat die alte Frau alles genau so wieder, wie sie es all die Jahre zum Fest gemacht hatte. Sie backte Plätzchen, schmückte einen Tannenzweig und kaufte eine Wurst mit einer Portion Kartoffelsalat. Der heilige Abend konnte kommen.

 

Es wurde mit jedem Tag dunkler. In diesem Jahr schien es wieder einmal keinen Schnee geben. So wurde es nasskalt draußen und die Menschen verkrochen sich in ihren Stuben, zündeten ihre Kerzen an und die Kinder übten Weihnachtslieder auf ihren Flöten. Die Häuser waren wie immer um diese Jahreszeit gut geheizt und erfüllt vom Duft des brennenden Bienenwachs und der Lebkuchen. Nach dem leckeren Abendessen bekamen die kleinsten noch einen heißen Kakao und die Eltern gönnten sich einen aufgewärmten, roten Wein oder warmen Apfelpunsch. Die Welt kam für ein paar Tage zur Ruhe und die Familien rückten zusammen, um sich zu besinnen. Was für eine gemütliche Zeit!

 

Nur die alte Frau blieb alleine. Ihre Kinder konnten nicht kommen, so fern waren sie. Andere Verwandte hatte sie aber nicht. Freunde und Bekannte - wenn sie denn noch lebten - waren selbst zu alt, um noch aus dem Haus zu gehen oder wurden von ihren Lieben geholt, um die Tage mit diesen zu verbringen. So backte die Frau zwar Plätzchen, dekorierte einen Zweig und steckte den alten Strohstern oben auf - sie wärmte sich ein Würstchen auf, wie es ihr Mann früher für alle gemacht hatte und sie steckte eine Kerze an - doch weihnachtlich wollte es nicht so recht werden.

 

Und es kam der heilige Abend. Die Welt wurde noch stiller. Niemand war mehr auf der Straße vor dem Haus. Von ferne schallte Glockengeläut herüber und selbst die Hunde in der Nachbarschaft hörten auf zu bellen - schienen zu spüren, dass dieser Abend ein anderer war als sonst. Feierlicher, stiller. Hell erleuchtet aus den Häusern der Menschen und doch dunkler irgendwie.

 

So setzte sich die einsame, alte Frau in ihren Sessel und hing ihren Erinnerungen an fröhliche Tage aus der Vergangenheit nach. Nein - verbittert war sie nicht. Sie wusste ihre lieben in froher Runde mit leuchtendem Christbaum, lachenden Kindern und Bergen von zerrissenem Geschenkpapier drumherum. Nein verbittert war sie nicht. Vielleicht ein kleines bisschen traurig.

 

Mit einem mal klopfte es an der Tür. Es war schon weit nach 6 Uhr. Die Dunkelheit vor der Tür war schwarz und das Wetter trübe. Die Frau schreckte hoch. Wer sollte denn an solch einem Tag um solch eine Uhrzeit wohl noch sein Ansinnen vortragen. Es war Dekaden her, dass sie in solch einer Situation fröhlich jubelnd zur Tür geeilt wäre, im Glauben es wäre der Weihnachtsmann, nun endlich mit seinem Gabensack vor der Tür stehend. Der Gedanke und der kurze Blitz der Erinnerung ließen die Frau kurz schmunzeln. Dann aber legte sie ihre Stirn in Falten. Wer sollte jetzt nur kommen? Sie erhob sich aus ihrem Sessel und ging zur Tür.

 

Vorsichtig öffnete sie diese. Und es war, als träfe sie der Schlag:

 

Draußen standen ihre beiden Söhne, deren Frauen mit insgesamt 4 ihrer Enkelkinder und einem Tannenbaum unter dem Arm. Die Kinder hatten die Arme voll mit bunten, in Geschenkpapier gewickelten Paketen. Alle strahlten die Frau an und die Kleinen rannten auf sie zu, fielen ihr in die Arme und krakeelten aus vier kleinen Organen “Fröhliche Weihnachten Oma”. Die Erwachsnen kamen hinterher und reihten sich ein. Es war ein riesiges, unübersichtliches Knäuel von Armen, Mützen, Mänteln, Schals, Geschenken und mittendrin einem Weihnachtsbaum. Was für eine Überraschung!

 

Als alle sich im Wohnzimmer versammelt hatten, die Wintermäntel in die Ecke geworfen waren und man sich von seinen sieben Sachen entledigt hatte, begann sofort das geschäftige Treiben. Die jungen Frauen verschwanden in der Küche nachdem sie der Schwiegermutter nachdrücklich zu verstehen gegeben hatten, dass diese sich nun gehörigst in ihren Sessel zu verdrücken hätte. Die jungen Männer waren eifrigts damit beschäftigt, den Baum möglichst perfekt ein zu richten und die Kinder fingen unverzüglich an, ihn mit allerlei Schmuck zu behängen, den sie auf dem Dachboden des alten Hauses ausfindig gemacht hatten.

 

Die alte Frau beobachtete alles dieses mit Tränen in ihren Augen und konnte ihr Glück nicht fassen. Das war es, was sie ihren Söhnen zeitlebens versucht hatte, mit auf den Weg zu geben. Es gibt nicht schöneres und besseres, als die Familie. Wenn alles um dich herum dunkler erscheint als sonst, dann wird sie da sein um Licht zu bringen. Wenn niemand mehr da ist, dann werden Deine nächsten sich Deiner besinnen und um Dich sorgen. Wenn Du glaubst alleine zu sein, dann wird Deine Familie um Dich sein.

 

Und wenn du das in dein Herz schließt, ist jeder Tag wie Weihnachten.